„Eine Haltung der Liebe“: Zwei Tage zum Thema „Ressource Religion in der säkularen Gesellschaft“
7. Juli 2023; ksd
Köln. Welche Rolle spielen Religionen noch? Für den Einzelnen wie für die Bevölkerung insgesamt? Kann Religion eine Ressource sein für eine Gesellschaft, die zunehmend als säkular, als weltlich bis areligiös geprägt wahrgenommen wird? Welche Bedeutung hat sie für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat – und dieser für sie? Um diese und andere Fragen ging es bei einer Veranstaltung, die von der evangelischen Melanchthon-Akademie und der katholischen Karl Rahner Akademie in Zusammenarbeit mit der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) durchgeführt wurde. Sie bestand aus einem zweitägigen interdisziplinären Workshop und einem Vortrag von Professor Dr. Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor für Islamische Religionspädagogik an der WWU.
Zum Auftakt zog Professor Dr. Thomas Gutmann, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der WWU, den rechtlichen Rahmen klar. Die im deutschen Grundgesetz – und auch völkerrechtlich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – verankerte Religionsfreiheit garantiert die Repräsentanz und ungehinderte Entfaltung von Religion in der Gesellschaft. Eigentlich. Denn nicht nur endet die Freiheit des Einen da, wo die des anderen beginnt oder eingeschränkt würde. „Religionsfreiheit garantiert Gleichheit und während wir mit der Religionsfreiheit als solcher keine Probleme haben, haben wir mit der Gleichheit massive Probleme – seit jeher“, erklärte Gutmann.
„Schaden an den Grundfesten der Verfassung“
Der Grund: Historisch bedingt haben die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts und seien damit „gleichsam zum Teil des Staates gemacht“ worden, so der Rechtswissenschaftler. Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland und einzelne jüdische Gemeinden haben diesen Status. Ebenso andere Religionsgemeinschaften, darunter die Alevitische Gemeinde Deutschland und die muslimische Gemeinschaft „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ – nicht jedoch der Zentralrat der Muslime in Deutschland, der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland oder andere islamische Verbände, die zum Teil seit langem auf dieses Recht drängen. Diese historische Form der Körperschaft, die Religionsgemeinschaften unter anderem dazu berechtigt, Steuern von ihren Mitgliedern zu erheben und als Dienstherr öffentlich-rechtliches Recht für die Mitarbeitenden anzuwenden, „passt offensichtlich nicht gut für den Islam und seine Organisationsformen“, sagte Gutmann. „Und das sollten wir ändern.“
Problematisch werde es immer dann, wenn es Eingriffe in die Religionsfreiheit gebe, „die scheinbar neutral daherkommen, tatsächlich aber nicht als neutral intendiert sind“, erläuterte der Jurist. Der „vielleicht schärfste Übergriff, der schärfste Angriff auf das Prinzip der religiösen Neutralität der Bundesrepublik kam von christlich motivierten Politikern mit Schulgesetzen und Kopftuchgesetzen, die vom Bundesverfassungsgericht unmittelbar als verfassungswidrig erklärt wurden“ , so Gutmann weiter. Probleme mit der Forderung nach einem Kreuz in der Schule oder in Amtsstuben, mit Vorschriften beim Moschee-Bau, mit der Forderung nach Kopftuchverboten, aber auch Grundrechte-Verletzungen im kirchlichen Arbeitsrecht nannte er als weitere Beispiele.
„Wir sollten uns selbst und unsere Kinder so erziehen, dass sie in einer pluralistischen Gesellschaft leben und religiöse Symbolik selbstverständlich Teil unserer Lebenswelt ist in der Stadt“, betonte Thomas Gutmann. „Das Problem ist, dass ein Staat, der sich im Gericht, in der Amtsstube oder in der Schule als Staat mit dem Christentum identifiziert, den Nicht-Christen sagt, dass sie keine vollwertigen Bürger sind und ihnen den Respekt als Gleiche verweigert. Es ist ein symbolischer Schaden, aber es ist ein Schaden, der an den Grundfesten der Verfassung angerichtet wird. Deshalb sollte man das nicht leichtnehmen. Es ist der Verrat an der neutralen Stellung, der schmerzt.“
Ayten Kilicarslan: „Wir sehen Deutschland als Heimat“
Daran knüpfte Ayten Kilicarslan, die Geschäftsführerin des Sozialdienstes muslimischer Frauen, im Laufe ihres Vortrages an – die erste von vier Vertreter*innen von Religionen in der Domstadt, die mit einem Beitrag auf Gutmann reagieren sollten und dabei die Frage beantworten, auf welcher Grundlage und aus welcher Motivation heraus sie (ihre) Religion in der Stadt repräsentieren. Religion trage das ganze Leben, aber: „In Deutschland steht in Frage, wie weit man die eigene Religion überhaupt ausleben kann, ohne unter Verdacht zu stehen“, sagte Kilicarslan. Natürlich gelte das Grundgesetz für alle und regle das Zusammenleben. „Aber wenn zugleich das Staatskirchenrecht muslimische Organisationen zwingt, ihre Strukturen an kirchliche Strukturen anzupassen, dann wird es ein Problem. Oder es wird ein Problem, wenn der Staat dadurch anfängt zu sagen ,Du bist ein guter Muslim, du bist ein schlechter Muslim‘. Also: ,Es ist nur soweit möglich, dass du dein Leben leben kannst, wenn du diese und jene Praktiken, so wie ich es verstehe, umsetzt.‘ “
Als Beispiel nannte sie ein Projekt des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, „Empowerment muslimischer und alevitischer Sozialarbeit“. Ayten Kilicarslan: „Da fängt das Problem an – da wird definiert, dass Aleviten keine Muslime sind. Man sagt nicht ,sunnitische und alevitische‘ (zwei Glaubensrichtungen im Islam – Anmerkung der Redaktion). Das ist ein klares Zeichen, dass Aleviten nicht zum Islam gehören. Aber das kann ein Staat oder eine Gesellschaft oder eine einzige Organisation nicht definieren. Es gibt zahlreiche Aleviten, die sagen ,Ich bin Muslim, ich gehöre zum Islam und sobald ich diesen Satz höre, fühle ich mich ausgeschlossen.‘ “
Es brauche eine starke Zivilgesellschaft – und eine starke Zivilgesellschaft brauche Augenhöhe. Die Politik müsse für neue Strukturen, infrastrukturelle Bedingungen und Fördermöglichkeiten sorgen – zum Wohle der ganzen Gesellschaft. Aktuell sehe die Lebenswirklichkeit für viele Muslimas und Muslime so aus: Sie erfahren Diskriminierung „in verschiedenen Bereichen, im Arbeitsleben, auf dem Wohnungsmarkt, auf dem Ausbildungsmarkt, in der Schule – die Schule ist wirklich eine der ganz großen Baustellen –, im Alltag, beim Einkaufen, im Kulturbereich etc.“, sagte Kilicarslan. „Weil wir fremdbestimmt werden, weil wir von vornherein gedeutet werden: Gehören wir zu den ,guten‘ Bürgern? Oder zu den ,schlechten‘ Bürgern? Werden wir geduldet oder nicht geduldet? Sind wir wirklich ein Teil der Gesellschaft oder kein Teil der Gesellschaft?“
Dabei haben Nicht-Muslime und Muslime in Deutschland eine gemeinsame Geschichte, machte sie deutlich. „Menschen, die sich unter einem anderen Namen zugehörig gefühlt haben, leben seit 100 Jahren in Deutschland.“ Diese Spuren sollten sichtbar gemacht werden. „Wir sehen Deutschland als Heimat und versuchen, unseren Spuren noch einmal nachzugehen, damit die neue Generation, die künftige Generation auch mal motiviert wird in Deutschland zu sagen ,Ich gehöre nach Deutschland, Deutschland ist meine Heimat.‘ “ Diese Spuren seien positive Spuren, betonte Ayten Kilicarslan. „Es gibt viel mehr Positives, als ich hier jetzt gesagt habe.“
Robert Kleine: Wegweiser sein in ethischen und gesellschaftlichen Fragen
„Ich glaube, es ist ganz klar, dass wir alle dankbar sind, dass wir in einer Demokratie leben. Und die Verantwortung, den freiheitlichen Staat zu schützen, ist die Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger, egal, aus welchem Land sie kommen, welche Konfession oder welchen Glauben sie haben und eben ganz unabhängig von ihrer Religionsgebundenheit.“ Das betonte Kölns Stadtdechant Msgr. Robert Kleine im Laufe seines Beitrages. „Aber ich glaube, dass das Bewusstsein für diese Verantwortung nicht automatisch angeboren ist, sondern dass es auch eine gewisse Hinführung und ein gewisses Erziehen für diese Verantwortung in der Demokratie bedarf.“ Mit katholischen Kitas, Schulen in katholischer Trägerschaft und einem Berufskolleg leiste die Kirche einen Beitrag in der Stadt. Und das nicht, um zu missionieren, sondern um – auch mit interreligiöser und ökumenischer Perspektive – den Glauben darzulegen und das Wertefundament, das ihm zugrunde liegt und der Gesellschaft zugutekommen soll.
Neben der Säkularisierung sei der Glaubwürdigkeitsverlust durch die Verbrechen des sexuellen Missbrauchs derzeit ein Problem für die katholische Kirche. Manche Priester würden in der Öffentlichkeit beschimpft, berichtete der Stadtdechant. Das sei natürlich nicht korrekt, aber die Kirche sei auch selbst mit schuld daran, wie sie aktuell gesellschaftlich wahrgenommen werde. Mittlerweile wendeten sich auch Menschen aus dem sogenannten „inneren Zirkel“ ab – Ehren- oder Hauptamtliche, die sich teilweise ihr ganzes Leben lang in der Kirche und für ihre Anliegen engagiert haben.
Für andere wiederum sind Kirchenvertreter auf Stadtebene einfach nur Lobbyisten oder Vertreter eines Vereins, so Kleine. Dabei gehe es ihm – ob in bilateralen Gesprächen mit der Oberbürgermeisterin oder Dezernenten sowie bei gemeinsamen interreligiösen Aktionen und Anliegen mit dem Rat der Religionen oder ökumenisch mit Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger – darum, dass das Christentum mit seinen Werten ein Wegweiser sein könne, erklärte der Stadtdechant. Als Beispiele nannte er ethische Fragen, Fragen des Zusammenlebens und des Miteinanders sowie die Bewahrung der Schöpfung, also den Einsatz für Umwelt- und Klimaschutz.
Die Kirche verfüge zudem über „Narrationen, über ein kognitives Reservoir, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann“ , zitierte Msgr. Kleine den Soziologen Hartmut Rosa, dessen Buch „Demokratie braucht Religion“, die Podiumsteilnehmenden zur Vorbereitung der Tagung gelesen hatten. Auch wenn manches heute von freien Ritualanbietern übernommen werde, zeige sich immer wieder, wie wichtig der kirchliche Raum und der religiöse Rahmen in vielen Situationen sei und noch sein könne – selbst dann, wenn die Teilnehmenden nicht immer einen klaren Bezug zur Kirche haben oder selbst religiös seien. Als Beispiele nannte Kleine den Abschieds- und Gedenkgottesdienst des Landes NRW im Kölner Dom für die Opfer des Germanwings-Absturzes 2015, aber auch Menschen, die ihr Kind taufen lassen oder sich „ einfach mal segnen“ lassen wollen vom Stadtdechanten, „weil sie ein Bedürfnis haben“ und „etwas Gutes erfahren“ beziehungsweise ihrem Kind etwas Gutes tun wollen.
Frei nach dem 1963 ermordeten US-Präsidenten John F. Kennedy gelte: „Frag nicht, was der Staat oder die Stadtgesellschaft für die Kirche tun kann, sondern frag, was die Kirche, auch die katholische Kirche, für die Stadtgesellschaft tun kann. So versuchen wir uns einzubringen, ich auch ganz persönlich“, sagte Stadtdechant Msgr. Robert Kleine. Einer der schönsten Gottesdienste, die er im Jahr feiere sei der Gottesdienst der Partnerschaftsvereine bei der Dreikönigswallfahrt im Kölner Dom. Die Domstadt hat 24 Städtepartnerschaften. „Seit einigen Jahren beten wir am Ende gemeinsam um den Frieden und da betet jeder in seiner Sprache. Es kommen die unterschiedlichsten Religionen. Und selbst Tel Aviv und Bethlehem, selbst die Ukraine, Dnipro, und Wolgograd, haben da im letzten Jahr miteinander und nebeneinander gestanden und in ihrer Sprache gebetet.“ Und das, so Kleine, könne auch ausstrahlen in die Stadt.
Torsten Krall: Diffuse Bewegungen als Gefahr für die Freiheit
Verantwortung zu übernehmen, liege „in den evangelischen Genen“, sagte Torsten Krall, Superintendent im Kirchenkreis Köln-Rechtsrheinisch, in seinem Beitrag. Dies sei gerade für Menschen, die – wie er selbst – aus der evangelisch-reformierten Tradition kommen, virulent, also fast schon gefährlich: „Verantwortung ist ein wahnsinnig hohes Gut und wie gut ich (als – sic.) Christ bin ist daran abzulesen, wie sehr ich Verantwortung übernehme für die Stadtgesellschaft“, fasste Krall die Problematik mit dem protestantischen Selbstwert zusammen.
Dies habe auch damit zu tun, dass evangelische Christen lange und vielerorts in der Minderheitenposition gewesen seien. Er habe es noch erlebt, „dass Protestanten nicht öffentlich wahrnehmbar sein und ihre Kirche nur im Hinterhof bauen durften“, berichtete der Superintendent. An seiner ersten Pfarrstelle in Grevenbroich habe es bis 1948 „keinen einzigen evangelischen Menschen gegeben“. Überliefert hat sich, dass bei den Ersten dann geklingelt wurde und wenn die Tür aufging, habe es geheißen: „Ich wollte mal sehen, wie ein Evangelischer aussieht“ – „und dann kamen einige diskriminierende Bemerkungen“, erzählte Torsten Krall. Die Reformierten hätten sich daraufhin abschotten und unter sich bleiben können – doch sie hätten sich stattdessen eingebracht und engagiert.
„Es ist ein Erbe – und ein sehr wertvolles Erbe, glaube ich, von dem unsere Gesellschaft tatsächlich immer noch profitiert“, sagte der Superintendent, richtete aber auch kritische Worte an seine Kirche: „Ich finde manchmal, dass wir als Evangelische das zu wenig schätzen. Wir sind gerade so ein bisschen auf dem Rückzug und da geht, glaube ich, auch uns selber sehr viel verloren.“
Mit Blick auf das Thema Freiheit sagte Krall: „Ich habe nicht mehr den Eindruck, dass große Organisationen unsere Freiheit beschränken, sondern eher diffuse Bewegungen.“ Es sei gut, wenn es noch Organisationen gebe, „wo das Gegenüber klar ist“, meinte Krall. „Es ist einfacher, als Gesellschaft mit einer Organisation zu streiten, die ein Gesicht hat, die Vertreter*innen hat als mit einer diffusen Gruppe.“ Dies habe sich etwa beim Thema Muezzin-Ruf gezeigt. „Da stehen ja plötzlich evangelische Pfarrer*innen an der Seite der Muslime. Ich habe nicht viele offizielle kirchliche Stimmen gehört, die gesagt haben ,Den Muezzin-Ruf finden wir doof‘, aber ich habe ganz viel diffuse Stimmung mitbekommen. Und damit umzugehen ist sehr schwierig, politisch“, erläuterte Torsten Krall. „Die Gefahr für die Freiheit liegt eher darin, dass wir keine klar definierten Gruppen haben, die in einem Gruppenprozess miteinander klären: Was sind eigentlich unsere moralischen Standards? Die wir auch nach außen hin vertreten.“
Im Gegensatz zum katholischen Stadtdechanten sagte der evangelische Superintendent abschließend, man sei „permanent damit beschäftigt, einen Diskurs zu verhandeln“, aber mit Blick auf Lösungen: „ Das sind wertvolle Dinge, die wir in die Stadtgesellschaft einbringen können.“ Er sehe die evangelische Kirche „eher auf der Seite der Prozesse, gar nicht auf der Seite der Meinungen und der Werte“, so Krall. „Wir haben Räume, Denk-Räume, und tragen manches in unserer DNA, dass wir solche Prozesse gerne haben und gerne veranstalten wollen.“ Die Stadtgesellschaft brauche das auch.
Rafi Rothenberg: „Kommt, sprecht mit uns!“
Als zahlenmäßig kleinste Religionsgemeinschaft im Saal – „wir sind weniger als ein Prozent der deutschen Bevölkerung“ – habe das Judentum nicht die Probleme, die die großen Religionen haben, sagte der Mitgründer und Vorstandsvorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Gescher LaMassoret, Rafi Rothenberg. „Wir müssen uns nicht überlegen, ob im Gerichtssaal ein Davidsstern hängen soll oder ob die Geschäfte am Sabbat geöffnet sein dürfen oder nicht. Wir haben andere Probleme. Wir haben erstmal das Problem, dass viele Leute uns überhaupt nicht kennen. Es gibt so viele deutsche Bürger, die noch nie in ihrem Leben einen Juden gesprochen haben.“
Judentum werde generell mit Antisemitismus und Holocaust in Verbindung gebracht. „Und das stört uns Juden sehr, weil dadurch das Judentum auf diese zwei Themen reduziert wird“, kritisierte Rothenberg und betonte: „Judentum ist viel mehr als das! Judentum ist Lebensfreude, das Leben im Hier und Heute.“ Medien wollten immer nur über diese beiden Aspekte, Antisemitismus und den Holocaust, sprechen. Ansonsten tauche das Judentum öffentlich auf, wenn es andere Probleme gebe, knüpfte der Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde an Ayten Kilicarslan an und an die Frage, „ ob man seine Religion nach seiner Art ausüben darf“. Als Beispiel nannte Rafi Rothenberg Diskussionen um die Themen Beschneidung oder Schächtung. Solche Debatten seien „eigentlich immer Sachen, die nicht positiv sind. Und deshalb versuchen wir einen Gegenakzent zu setzen“ – und sich damit in die Stadtgesellschaft einzubringen.
Am Mitzwa-Tag, einem jüdischen Tag für die Wohlfahrt und gute Taten, pflanze die Liberale Gemeinde in Zusammenarbeit mit dem Naturschutzbund Deutschland (NABU) seit zwei Jahren im Kölner Norden eine öffentliche Streuobstwiese mit 160 Bäumen. „Diese Streuobstwiese heißt nicht nur, dass wir etwas mit Umwelt und für die Bevölkerung machen, sondern diese Bäume und Pflanzen setzen auch ein Zeichen: Wir bleiben hier, wir sind hier, wir sind ein Teil der Gesellschaft“, betonte der Vorstandsvorsitzende. „Und das, denke ich, ist unsere Aufgabe im Liberalen Judentum, als liberale Juden.“ Als weiteres Beispiel nannte er die örtliche Organisation der Veranstaltung „Deutschland singt“, zu der jährlich am Tag der Deutschen Einheit eingeladen wird. Es sei ihnen wichtig gewesen, dass alle Religionsgemeinschaften im Stadtteil Riehl daran teilnehmen und: „Das haben wir geschafft!“
Auch politische Aktionen gehören dazu, wie etwa das Polieren von Stolpersteinen, die an die Opfer der Nazis erinnern. Unter dem Leitwort „Glanz gegen Rechts“ setzten dabei 2020 zahlreiche Kölnerinnen und Kölner ein Zeichen gegen Forderungen aus der AfD, eine „180-Grad-Wendung“ in der Erinnerungs- und Gedenkkultur Deutschlands zu vollziehen. Solche Aktionen zeigten auch: „Hier sind wir. Und wir sind nicht nur Opfer. Und wir sind nicht die Unbekannten“, betonte Rafi Rothenberg. „ Kommt, sprecht mit uns!“
Mouhanad Khorchide: Religionen haben auch einen politischen Auftrag
„Religion als Ressource“ – hinter diesem Titel der Veranstaltung vermisste Professor Dr. Mouhanad Khorchide ein Fragezeichen. Für ihn als Theologen und religiöser Mensch sei das zwar „sehr sympathisch“, aber die Realität zeige, dass sich immer mehr junge Menschen von religiösen Institutionen abwendeten, führte der Islamwissenschaftler und Soziologe später in seinem Vortrag aus. „Diese Institutionen sind heute herausgefordert, sich strukturell, aber auch inhaltlich zu reformieren“, so Khorchide.
Gleichzeitig gibt es viele Menschen, die beispielsweise auf dem Jakobsweg unterwegs sind und dort Erfahrungen machen, ohne dass sie mit religiösem Bezug oder religiöser Intention unterwegs sind. Mit Bezug auf Hartmut Rosa sagte Khorchide: „Religion erinnert uns: Es gibt etwas Anderes. Auch mit einem anderen Zeit-und-Raum-Konzept.“ Religion verfüge über soziale und konkrete, materielle Räume, über ein Idee-Reservoir und ein „rituelles Arsenal voller Traditionen und Praktiken, die einen Sinn dafür öffnen, was es heißt, sich anrufen zu lassen, sich transformieren zu lassen, in Resonanz zu stehen“. Wenn die Gesellschaft das verliere, schreibe Rosa, wie sie „die Form der Beziehungsmöglichkeit“ vergesse, „dann ist sie endgültig erledigt“.
Das könne er nicht ganz so stehenlassen, sagte Khorchide. Man dürfe nicht vergessen zu klären, von welchem Religionsverständnis man ausgehe, in welchem Diskurs man sich bewege – „in einem religiösen?“ – und welche Sprache man verwende. „Wenn ich vom Islam spreche, richte ich das an Muslime und kommentiere ich islamisch, damit ich sie erreiche? Das ist notwendig! Aber diese Sprache wird ein nicht-religiöser Mensch oder ein nicht-muslimischer nicht verstehen und nicht nachvollziehen können“, erläuterte der Islamwissenschaftler.
Religion als Ressource für einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat? Unter Ressource verstehe er: „Inwieweit leistet Religion einen positiven Beitrag für die Erhaltung, Förderung, Weiterentwicklung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung?“, machte Mouhanad Khorchide klar. Beim Prinzip der Nächstenliebe, selbstlos da zu sein für seine Mitmenschen – da seien sich viele schnell einig, dass Religionen in diesem Sinne einen positiven Beitrag für den demokratischen Rechtsstaat leisteten. Dafür seien einige Voraussetzungen notwendig, zählte Khorchide auf:
+ Wenn der Mensch als solcher in den Religionen gewürdigt wird, unabhängig von seiner religiösen beziehungsweise weltanschaulichen Zugehörigkeit.
+ Wenn Religion im Menschen das selbstbestimmte Subjekt sieht – und nicht das Objekt der Hörigkeit.
+ Wenn Religionen die Wahrheit nicht für sich pachten – mit diesem exklusivistischen Anspruch – und den Absolutheitsanspruch überwinden. Es gibt unterschiedliche Wege zur Wahrheit.
+ Wenn im Zentrum religiöser Angebote Spiritualität, Achtsamkeit, Prozesse der Selbstfindung, aber auch Tugenden wie Dankbarkeit, Versöhnung, Vergebung, Ehrenamt, Nächstenliebe und so weiter stehen.
Khorchide selbst geht von einer Freiheitstheologie des Islam aus oder auch liberaler Theologie, welche die Gott-Mensch-Beziehung als Freiheitsbeziehung definiere, in der der Mensch ein selbstbestimmtes Subjekt sei. „Ich verstehe den Islam nicht als Gesetzesreligion, in der die Scharia als eine Art göttliche Gesetzesordnung waltet, um möglichst alle Lebensbereiche religiös-normativ im Sinne eines juristischen Schemas zu bestimmen. Auch verstehe ich die Gott-Mensch-Beziehung nicht im Sinne der Unterwerfung“, betonte der Theologe. „Die Freiheitstheologie definiert den Islam vielmehr als Hingabe an einen dem Menschen bedingungslos zugewandten Gott. Das ist eine Haltung der Liebe.“
Der Koran, wie er ihn verstehe, wolle „zur Liebe entzünden“. Khorchide weiter: „Er macht aus seinen Rezipienten keine Objekte der Hörigkeit. Sie sind vielmehr Subjekte, die sich mit ihrer Lebenswirklichkeit in eine offene Kommunikation mit dem barmherzigen Gott einbringen und sich der Frage stellen, wie sie die Liebe, die sich in ihnen durch die Begegnung mit dem Koran entzündete, in ihrem jeweiligen Lebensentwurf verwirklichen können. Liebe erfüllt keine Funktion. Sie fragt nicht nach dem Warum. Sie ist einfach bedingungslos. Sie wendet sich dem Gegenüber zu – um seiner selbst willen. Dadurch wird dieses Gegenüber als Subjekt und keinesfalls als Objekt funktionalisiert.“
Islam, Christentum und Judentum verkünden einen Gott, der sich als Liebe und Barmherzigkeit offenbart hat, so Mouhanad Khorchide. Die Antwort des Menschen darauf sei es, Gottes Liebe anzunehmen. „Je mehr sich Liebe und Barmherzigkeit durch sein Handeln im gelebten Leben offenbaren, desto religiöser ist der Mensch“, erläuterte der Islamwissenschaftler. „Religiösität ist somit ein Geschehen der Liebe, aus Liebe und für die Liebe. Sie will sowohl das Vertrauen in Gott, die Demut vor Gott, das Ergriffensein von Gottes Liebe und das Berührtsein im Herzen von Gottes Zusage.“ Vom Menschen werde sein Einsatz im gelebten Leben erwartet, „sein Bemühen, den anderen Freude und Glück zu vermitteln, ihr Leid zu lindern, der Schöpfung gegenüber verantwortungsvoll zu handeln sowie bedingungslos für seine Mitmenschen da zu sein und ihr Recht auf Selbstbestimmung zu bejahen zum Ausdruck bringen“.
Das Christentum spreche vom Menschen als Ebenbild Gottes, der Islam vom Menschen als Kalif und damit als Statthalter Gottes. In ihrem Selbstverständnis hätten beide Religionen darum auch einen politischen Auftrag. Es gehe um die soziale, die geistige und die politische Befreiung des Menschen „von jeglicher Form der Bevormundung und Unterdrückung“. Darüber hinaus gelte es die Umwelt zu bewahren. Mouhanad Khorchide: „Religiösität verwirklicht sich somit nicht allein in Moscheen, Kirchen und Synagogen, sondern vor allem in verantwortungsvollen Lebensentwürfen im Sinne der Befreiung von jeglicher Form der Verzweckung der Schöpfung.“
Hildegard Mathies