Holocaust-Gedenktag: 80 Jahre Befreiung des KZ Auschwitz – „Immun werden gegen das Gift von Antisemitismus und Hass“
27. Januar 2025; ksd
Köln. Am vergangenen Wochenende zogen zwischen 40.000 (Polizeiangaben) und 75.000 Menschen (nach Veranstalterangaben) durch Köln, um quer durch alle Generationen und gesellschaftlichen Gruppen ein lautstarkes und deutliches Zeichen gegen Rechts zu setzen. „#5vor12 – Laut für Demokratie“ war das Leitwort der Demo, zu der das Bündnis „Köln stellt sich quer“ aufgerufen hatte. Auch die Kirchen unterstützten den Protest. Nur zwei Tage später schlugen die Kirchen, die Synagogen-Gemeinde Köln sowie zahlreiche Schülerinnen und Schüler leisere, aber nicht minder bewegende und deutliche Töne an: bei der traditionellen Gedenkstunde zum Internationalen Holocaust-Gedenktag am Löwenbrunnen, dem Lern- und Gedenkort Jawne. 80 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz war die Botschaft klar: Antisemitismus und Ausgrenzung, Rassismus und Rechtsextremismus dürfen in Köln und in einer modernen, vielfältigen Gesellschaft keinen Platz haben. Und das Grauen der Shoah, des Holocaust, darf sich niemals wiederholen.
„Die Demokratie war zu schwach“
„Haben wir aus der Vergangenheit gelernt? Sind wir wach? Sind wir wach genug?“: Diese Fragen stellte Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger zu Beginn der Veranstaltung am Löwenbrunnen, der daran erinnert, dass mehr als 1100 jüdische Kinder und Juzgendliche während der Nazizeit aus Köln deportiert und in KZs ermordet wurden. Haben wir „gelernt, wie es zu dieser Menschenverachtung und Gewaltherrschaft kam“, so Seiger mit Blick auf die mehr als sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden. „Wissen wir, dass es auch daran lag, dass die Demokratie zu schwach war? Dass es kein Aufbäumen der Aufrechten gab? Dass die Kirchen versagt haben?“
Es habe kein Zusammenwirken der gesellschaftlichen Kräfte gegeben, „um das extrem rechte Gedankengut der Nazis zu verhindern“, erklärte der Stadtsuperintendent. Hass beginne mit Worten und auf antisemitische und rassistische Worte folgten bald Schmierereien, Zusammenschlüsse Gleichgesinnter und dann Verbrechen.
„Viel stärker als vor 90 Jahren“
In den 1930er-Jahren seien zu wenige Menschen wach gewesen, so Seiger. „Sie waren Überzeugungstäter oder Mitläufer oder haben sich ohnmächtig gefühlt. Wir heute sind nicht ohnmächtig. Wir leben in einer wunderbaren Demokratie mit Meinungs- und Versammlungsfreiheit“, betonte der Stadtsuperintendent. Die Demo am vergangenen Wochenende habe ein klares Zeichen für ein friedliches Miteinander der Demokraten gesetzt. „Dieses Bündnis der Aufrechten macht uns viel, viel stärker als vor 90 Jahren!“
Jeden Tag komme es auf jeden Einzelnen an – und darauf, über die Wahrheit zu sprechen, wo Menschen den Holocaust leugnen oder die Opferzahlen kleinreden und wo Menschen und Parteien immer weiter nach rechts driften, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern Europas und der Welt. Jeden Tag gelte es einzutreten für Menschenrechte und für das Recht, so Seiger. „Sind wir wach genug? Sind wir in der Lage, in den Familien, mit unseren Nachbarn, Gefährten in Schule und Sport über Politik und die Lehren der deutschen Geschichte zu sprechen?“, fragte Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger zum Abschluss. „Dazu brauchen wir Mut und wir brauchen uns gegenseitig! Sind wir wach genug? Die Frage müssen wir uns jeden Tag stellen, um heute das richtige zu tun, denn es kommt auf jeden von uns an!“
„Alles einsetzen für die Menschlichkeit“
Der Überlebenden und Zeitzeugin Renate Friedländer war es ebenfalls wichtig, ein Statement abzugeben und ein Zeichen zu setzen. „Ich bin mit meiner Familie ausgewandert, nach England, 1939. Wir hatten noch Glück. Meine Mutter kam im Februar nach England und dann bin ich quasi in England aufgewachsen, als ich in eurem Alter war“, wandte sie sich an die Schülerinnen und Schüler. „Es war eine gute Zeit. Dann traf ich einen Maler, der war Deutscher. Und der war nicht jüdisch. Das war 1960. Er sagte zu mir: ‚Du müsstest eingentlich einfach mal nach Deutschland zurückgehen und deine Altersgruppe treffen. Geh mal ein Jahr nach Deutschland, nach Freiburg.‘ Da bin ich nach Freiburg gegangen. Es war so schön, dass ich nach acht weiteren Jahren in England mich entschlossen hatte, nach Deutschland zurückzukehren. Ich wollte das nur als einen positiven Akzent setzen und bin dankbar für meine Kommilitionen damals und bin dankbar für die Menschen, die ich hier kennengelernt habe. Dass ich viel Menschlichkeit und Liebe begegnet bin. Und jetzt bin ich alt, ich bin 95 und es geht mir Gott sei Dank gut. Und ich wollte auch die jungen Leute ermutigen, alles einzusetzen, was sie können, für die Menschlichkeit. Das, glaube ich, wird uns schützen vor einer Wiederholung der schrecklichen Dinge, die passiert sind.“
„Schulen mit Courage“
„Ich bin außerordentlich froh und ich bin außerordentlich stolz, dass ich hierherkommen und vor Ihnen reden darf“, sagte Dr. Michael Rado, Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln. Er sei zutiefst beeindruckt von den Schülerinnen und Schülern, die sich gegen Rassismus wenden. „Wir haben lauter Schulen, die gegen Antisemitismus sind. Das sind Schulen mit Courage. Die machen was! Die haben Initiative! Die wollen nicht nur ein bisschen gedenken.“
Mit Blick auf Renate Friedländer sagte Rado: „89 Jahre zurück und sie wäre nicht in Köln. Sie wäre in Auschwitz durch den Ofen gegangen.“ Er sei nur eine Woche nach der Befreiung des KZ Auschwitz in Palästina geboren worden. Der Bruder seiner Mutter sei zwar rechtzeitig vom Vater nach England geschickt worden, dort jedoch von den Engländern inhaftiert und dann nach Kanada geschickt worden, „weil sie Angst hatten, dass er ein Spion sei für Nazi-Deutschland“, erzählte Rado.
„Wie kann man das Gedenken verstärken?“, fragte der Mediziner dann. „Warum sind denn die Juden damals alle umgebracht worden? Die sind umgebracht worden, weil man der Ansicht war, das ist ‚ Ungeziefer‘. Das sind ‚Ratten‘ und ‚Ratten‘ muss man umbringen. Und daraus hat man eine komplette Politik gemacht und deswegen hat man die Juden zusammengesammelt, gejagt und hat sie dann umgebracht.“
„Passt auf, dass das nicht wieder passiert!“
Eindringlich wandte er sich dann nochmal direkt an die Kinder und Jugendlichen: „Wenn wir das mit heute vergleichen, wenn wir überlegen, wie wäre das denn, wenn ihr betroffen wärt, ihr persönlich. Angenommen, plötzlich hätten wir hier eine Regierung, die sagen würde, ‚Alles, was da passiert ist, das waren ja alles Moslems. Wir müssen alle Moslems umbringen, egal, woher sie kommen, Die sind ja minderwertig‘ – und die anderen würden das mitmachen. Ihr habt genügend muslimische Kinder in der Klasse, in der Schule, und muslimische Lehrer. Wir haben muslimische Mitbewohner hier in Köln, 100.000 von der einen Million (Einwohner in Köln – sic.) und die würden alle umgebracht werden. Plötzlich wäre der Mohammed in der Klasse nicht mehr da. Wo ist der denn? Ja, die Familie wurde abgeholt… So wäre eure Betroffenheit heute!“
Damals haben rund 20.000 Jüdinnen und Juden in Köln gelebt, erinnerte Rado. Würde man heute alle Muslime verfolgen, vertreiben oder sogar ermorden, würden die muslimisch geprägten Stadtviertel verwaisen, machte er deutlich. „Jeder von euch würde das sehen, jeder! Keiner könnte hinterher sagen ‚Das konnte ich überhaupt nicht erkennen‘. Und wenn die tolle Moschee verbrannt wäre, wenn die zerstört wäre – jeder von euch wüsste das! Und in jeder Zeitung wäre das, weltweit. DAS war die Situation damals.“
Deswegen sei es wichtig, aus dem Gedenken eine aktive Handlung, eine Initiative zu machen. Wer noch nicht 18 Jahre alt sei, könne zwar bei der Bundestagswahl noch nicht abstimmen, „aber redet mit euren Eltern“, so Rado an die Schülerinnen und Schüler. „Redet mit euren Eltern für deren Seelenheil, für euer Seelenheil und für das eigene Überleben! Passt auf, dass das nicht wieder passiert!“
„Mach uns streitbar gegen menschenverachtende Parolen“
Kölns Stadtdechant Msgr. Robert Kleine sprach traditionell das Schlussgebet der Gedenkstunde. Im Wortlaut:
Du, Gott des Friedens und der Versöhnung:
Wohin sollen wir uns wenden mit unserer Empörung und Trauer
in unserer Hilflosigkeit und unserem Entsetzen
angesichts der Millionen Toten des Holocaust und der unmenschlichen Verbrechen
während des nationalsozialistischen Regimes in unserem Land.
So viele Menschen,
die wie wir in Frieden leben wollten,
wurden bedroht, vertrieben, getötet,
nur weil sie jüdischen Glaubens waren.
Wir hören 80 Jahre später wieder hasserfüllte Parolen,
die auch in unserem Land gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger laut werden.
Wir sind zerrissen von widersprüchlichen Gefühlen,
auch von der Angst, dass der Antisemitismus bei uns weiter wächst.
Barmherziger und guter Gott:
wir bitten dich für alle Menschen
für Juden, Christen und Muslime,
für Menschen jedweder Religion und Weltanschauung
um ein Ende von Hass und Gewalt
um ein Leben in Frieden und Freiheit.
Erfülle die Verantwortlichen in der Politik in unserem Land,
im Nahen Osten und in allen Ländern dieser Welt
mit dem Mut zu konkreten Schritten zu einem dauerhaften Frieden.
Erfülle uns mit dem Geist der Besonnenheit und der Friedfertigkeit.
Hier bei uns in Deutschland haben wir Frieden,
aber so viele Menschen reden voller Hass und finden die Gewalt gut.
Das „Nie wieder“ wird inzwischen von nicht wenigen relativiert.
Barmherziger und gerechter Gott:
Mach uns streitbar gegen menschenverachtende Parolen,
laut gegen jegliche Relativierung des Holocaust
und immun gegen das Gift von Antisemitismus und Hass.
Lass uns aufmerksam sein, wie wir miteinander sprechen
und gib uns den Mut einzuschreiten,
wenn über andere voller Hass geredet wird.
Denn du sprichst uns das Wort zu, das Frieden stiftet
und für alle eine Zukunft verheißt.
Hilf uns, in dir Kraft zu finden.
Denn dein Name ist Leben, Friede, Salam und Schalom.
Amen.
Vor der Gedenkstunde an der Jawne, wo sich früher ein jüdisches Gymnasium befand, hatte Stadtdechant Msgr. Robert Kleine traditionell Blumen am Denkmal für die in Auschwitz-Birkenau ermordete Philosophin, Frauen- und Menschenrechtlerin sowie Benediktinerin Edith Stein niedergelegt.
Das KZ Auschwitz-Birkenau, das aus drei Hauptlagern und mehreren Nebenlagern bestand, wurde unter dem Namen Auschwitz zum Inbegriff der Grauen und Verbrechen des Holocaust. Allein dort wurden bis zu 1,5 Millionen Menschen systematisch und „industriemäßig“ ermordet, 90 Prozent von ihnen Jüdinnen und Juden.
Am 27. Januar 1945 befreite die sowjetische Rote Armee das Lager und fand dort noch rund 7000 lebende Inhaftierte. Mehrere Hundert starben in den folgenden Tagen an den Folgen der Haftzeit und der Grausamkeiten der Nazis. Die Überlebenden und ihre Familien tragen bis heute an den Leiden, Traumata und erlittenen Verlusten.
Hildegard Mathies
Das Statement der Deutschen Bischofskonferenz zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz lesen Sie hier.