„Seenotrettung nicht kriminalisieren": Katholische und evangelische Kirche von Köln unterstützen die Aktion Seebrücke

18. Dezember 2019; Hildegard Mathies

Köln. Aus Anlass des Internationalen Tags der Migranten haben das Katholische Stadtdekanat Köln und der Evangelische Kirchenverband Köln und Region erstmals eine sozialpolitische Gemeinsame Erklärung herausgegeben. Gemeinsam mit Aktivisten der Aktion Seebrücke forderten Stadtdechant Msgr. Robert Kleine und Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger im Rahmen einer Pressekonferenz eine humane und humanitäre Flüchtlingspolitik von der EU. Umrahmt wurde die Pressekonferenz von der Präsentation großer Banner zur Seebrücken-Aktion „Jeder Mensch hat einen Namen" an der katholischen Agnes- und der evangelischen Lutherkirche (an der Lutherkirche bis zum 4. Januar).

 

Dreihundert Kilometer – das ist doch gar nicht so viel. So weit ist es etwa von Libyens Küste bis Lampedusa. 17 Grad Wassertemperatur am Tag – das ist doch gar nicht so wenig. Und auch wenn das Thermometer nachts fällt – es wird doch schon noch gehen, irgendwie. Doch es sind nicht diese Maßstäbe, nicht unsere westlich-sicheren Maßstäbe, die wir anlegen dürfen, wenn es um Menschen geht, die auf der Flucht sind. Die übers Mittelmeer zu uns kommen wollen, dorthin, wo vermeintlich Sicherheit herrscht und Frieden, wo Hoffnung ein Ziel hat und sie eine Zukunft. Und wo sie Wärme erwarten, menschliche Wärme.
Die Realität sieht anders aus. Tag für Tag, wann immer Wetter und Wellen es auch nur ansatzweise zulassen, machen sich Menschen auf den Weg nach Europa. Sie fliehen vor Krieg und Gewalt, vor Hass und Hunger, vor Perspektivlosigkeit und Hoffnungslosigkeit, Verfolgung und Ausgrenzung. Und vor dem Tod, der sie bisweilen sogar in der eigenen Familie erwartet, etwa wenn sie sich als Muslime entschieden haben, Christ zu werden.
Oft lassen sie alles zurück, ihre Familie, ihr Leben, ihre Identität. Manchmal haben sie oder die ganze Familie all ihr Geld gegeben für einen Platz auf engstem Raum in einer Nuss-Schale oder einem Seelenfänger-Bötchen. Das kaum Wind und Wetter und der Masse von Menschen, die auf ihm zusammengepfercht werden, Stand halten kann. Wenn sie aufs Boot gehen, haben viele zudem schon einen langen Weg hinter sich und sind am Ende ihrer Kraft. Viele Flüchtlinge berichten von Hunger und Durst auf dem Weg durch die libysche Wüste, aber auch von Misshandlung, Gewalt, Folter und Vergewaltigung, bis sie einen Platz auf einem Boot ergattern können.
Fast jeden Tag sterben Menschen im Mittelmeer, Männer, Frauen, Kinder. Wie viele, weiß niemand. 15 000 allein in den vergangenen fünf Jahren schätzt die UNO. Wie viele Menschen wirklich qualvoll in den Fluten untergehen und erst panisch, dann wie gelähmt langsam ihrem Tod entgegensinken – niemand weiß es. Denn niemand weiß, wie viele Menschen wirklich auf so einem Boot sind.
Der Umgang mit diesen Menschen, die Frage ihrer Rettung – oder brutal nüchtern ihrer Nicht-Rettung – ist in den vergangenen Jahren zum Politikum geworden. Die Staaten der Europäischen Union (EU) und auch die anderen Anrainer des Mittelmeeres schieben sich die Verantwortlichkeiten zu. Konsequente Seenotrettung wird fast nur noch von zivilgesellschaftlichen Initiativen und Bündnissen betrieben, wie der Aktion Seebrücke. Das Katholische Stadtdekanat Köln und der Evangelische Kirchenverband Köln und Region haben aus Anlass des Internationalen Tages der Migranten in einer Gemeinsamen Erklärung mit dem Titel „Jedes Leben zählt“ ihre Solidarität mit Initiativen wie der Aktion Seebrücke erklärt. Zugleich fordern sie von der EU eine humane und humanitäre Flüchtlingspolitik. Die erste gemeinsame sozialpolitische Erklärung von Stadtdechant Msgr. Robert Kleine und Stadtsuperintendent Dr. Bernhard Seiger wurde gemeinsam mit den beiden Seebrücke-Aktivisten Laura Gey und Johannes Gaevert, der gerade von einer Mission auf dem Rettungsschiff „Alan Kurdi“ zurückgekehrt ist, sowie Pfarrer Hans Mörtter in der evangelischen Lutherkirche der Presse vorgestellt. An der Lutherkirche in der Südstadt weisen zwei orangefarbene, fünf mal zehn Meter große Banner unübersehbar auf die Arbeit der Seebrücke hin – und auf ihre Aktion „Jeder Mensch hat einen Namen“. Die Banner nennen Namen und Zahlen von Menschen, die auf der Flucht über das Mittelmeer ertrunken sind. Zuvor hingen die Transparente an der katholischen St,-Agnes-Kirche in Nippes.

„Ertrinkende muss man retten“

„Das, was im Mittelmeer geschieht, ist eine menschliche Katastrophe, ein unhaltbarer Zustand“, betonte Seiger. Es sei eine staatliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Menschen aus Seenot gerettet werden können. „Und wenn das nicht der Fall ist, dann sind zivilgesellschaftliche Organisationen und eben auch wir Kirchen gefragt, unseren Beitrag dafür zu leisten, dass erkannt wird, dass Handlungsbedarf besteht.“ Die EU habe hier in den vergangenen Jahren versagt.
Außer Frage stehe, dass die Seenotrettung im Mittelmeer ein Muss ist. „Ertrinkende muss man retten, ohne jedes Wenn und Aber“, bekräftigte Seiger. „Das gehört sich aus dem Gebot der Nächstenliebe heraus und das gebietet das Grundgesetz mit dem einfachen und klaren Satz ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘. Und das gebietet das Internationale Seerecht.“ Seenotrettung dürfe nicht kriminalisiert werden, wie es im vergangenen Sommer „an vielen Stellen passiert ist und wie es einige EU-Staaten getan haben“, sagte Seiger. „Das geht nicht. Das ist ein Tabubruch und dem müssen wir uns entgegenstellen.“
Weltweit sind mehr als 70 Millionen Menschen auf der Flucht. „Wenn man Migranten dazurechnet, ist die Zahl noch viel größer“, so der Stadtsuperintendent. Von 272 Millionen Menschen sprechen die Vereinten Nationen. „Da begreifen wir, wie groß die Dimensionen sind, über die wir reden.“ Es gehe gerade deshalb um die Würde, um die Namen, um die Identität jedes Einzelnen.

„Europa darf keine Festung sein“

Stadtdechant Kleine warnte davor, dass die Gesellschaft abstumpfe gegenüber der menschlichen Katastrophe im Mittelmeer. Nur äußerst dramatische Bilder wie die des an den Strand gespülten toten kleinen Jungen Aylan Kurdi vor einigen Jahren schaffen es noch in die Nachrichten und ins Bewusstsein der Menschen. Doch auch sie verschwinden in der Regel schnell wieder aus dem Fokus.
In Hass-Kommentaren sei oft die Rede davon, dass das „alles Wirtschaftsflüchtlinge“ oder „ Kriminelle“ seien. „Dann denke ich: Ihr, die ihr solche Kommentare schreibt, überlegt doch einmal: Was wäre, wenn du mit deiner Familie in einem Kriegsland leben müsstest? Was wäre, wenn du versuchst, etwas für deine Familie zu tun? Das ist ja unser Bestreben, sich einzusetzen für Menschen, die man liebt, die man im Herzen trägt“, so Kleine. Viele sähen ihre einzige Chance darin, zu fliehen und ihre Heimat zu verlassen. „Keiner tut das leichtfertig, eine Hoffnung treibt die Menschen auf dieses Meer hinaus.“
Europa dürfe für sie nicht zur Festung werden, betonte der Stadtdechant. „Wir müssen schauen, wie alle europäischen Staaten – selbst die, die keine Küste haben, an denen Flüchtlinge ankommen, wie die osteuropäischen Mitgliedsländer wie Polen oder Ungarn – eine gerechte Verteilung schaffen und wie man dafür sorgen kann, dass diese Menschen, die zu uns kommen, eine Zukunft erhalten.“ Die Flüchtlingslager an den Küsten seien überfüllt. „Es ist beschämend, wenn wir als Industrienationen, die wir alle Möglichkeiten haben, auch finanziell, sagen: Das können wir uns nicht leisten, da bricht unsere Struktur zusammen, wenn wir diese Menschen aufnehmen“, kritisierte Kleine.

„Der braunen Saat den Nährboden entziehen“

Mit der Gemeinsamen Erklärung fordern die beiden Kirchen auch einen gesellschaftlichen Klimawandel, machte der Stadtdechant deutlich. „Wir setzen uns dafür ein, dass das Klima in unserer Gesellschaft nicht von Hetze und Hass gegenüber Geflüchteten bestimmt wird.“ Wenn eine Gewalttat verübt werde, werde zuerst nach der Nationalität des Täters gefragt: „Und wenn er schon länger hier lebt, wird gefragt. Ist er ein .Bio-Deutscher’? Diese Begrifflichkeiten zeigen, dass sich etwas verschoben hat in unserer Gesellschaft“, sagte Kleine. „Natürlich ist jedes Verbrechen furchtbar und muss bestraft werden. Aber diese Denke in leider immer mehr Köpfen: Wir sind die Guten und die anderen sind die Bösen und das Böse kommt quasi über das Mittelmeer – das ist unerträglich. Da müssen wir dagegenhalten, gegen alle rassistischen und nationalistischen Tendenzen – und das tun wir auch als Kirchen und fordern damit auch die Politik auf, eine humane und humanitäre Flüchtlingspolitik anzuwenden, damit diesem Sumpf der Nährboden entzogen wird und damit die braune Saat in unserem Land nicht aufgeht.“
„Es ist eindeutig, dass das zivilgesellschaftliche Engagement dringender ist denn je“, sagte Johannes Gaevert, der fast einen Monat lang mit dem Rettungsschiff „Alan Kurdi“ im Mittelmeer unterwegs war. 84 Menschen wurden auf der Mission aus Seenot gerettet, darunter viele junge entkräftete Frauen, viele Minderjährige und zwei Neugeborene, berichtet der 21-Jährige.
„Die Situation ist weiterhin sehr dramatisch“, so der Seebrücke-Aktivist. „Wir hatten Menschen an Bord, die seit drei oder vier Jahren in Libyen sind und es teilweise drei- oder viermal versucht haben. Die sagen uns: Ich springe lieber über Bord, wenn die libysche Küstenwache kommt, und sterbe im Meer, als wieder zurück nach Libyen zu kommen. Die Menschen sterben lieber auf dem Mittelmeer, als länger in der ,Hölle in Libyen’ zu bleiben.“

„Das Mittelmeer darf kein Massengrab mehr sein“

Seine Kollegin Laura Gey engagiert sich seit dem vergangenen Jahr in der Kölner Gruppe der Aktion Seebrücke. Den Ausschlag gab die zunehmende Kriminalisierung der Seenotrettung, aber auch immer mehr Hass gegen Geflüchtete und rassisitsche Tendenzen. „Es gibt in den politischen Strukturen ein Interesse daran, Seenotrettung in Europa zu kriminalisieren“, ist sie überzeugt. „ Das hat für mich einen ganz krassen Tabubruch dargestellt und ging einher mit einer moralischen Verlagerung in unseren Vorstellungen von Gut und Böse und von dem, was richtig und was falsch ist.“ Vorstellungen, die eigentlich in einer zivilisierten Gesellschaft „extrem wichtig“ seien. „Dass sich da etwas verschiebt wurde auch politisch – mindestens auf deutscher Seite – zugelassen und auch toleriert. Das ist etwas, wo die Zivilgesellschaft eine große Rolle spielen muss, damit meine ich auch die Kirchen, aber auch politische Aktionsbündnisse wie die Seebrücke, denen die Aufgabe zukommt zu sagen: Es gibt auch eine andere Gesellschaft, ein anderes Europa, wo die Leute Interesse daran haben, dass eben weiterhin gerettet wird und wo die Leute Interesse an diesen Menschenleben haben! Das ist die Aufgabe, die da vor uns liegt.“
Für Pfarrer Mörtter stand außer Frage, dass er die Lutherkirche zur Verfügung stellt, um auf das Thema und die Aktion aufmerksam zu machen. Die Gemeinde engagiert sich bereits seit mehr als einem Jahrzehnt für Flüchtlinge. Der Südstadt-Pfarrer findet deutliche Worte: „Ich bin der Ansicht, dass das Sterben im Mittelmeer bewusster Totschlag Europas ist. Das muss man sagen! Unsere Regierung, unsere Politik begeht bewussten Totschlag, indem sie das zulässt und nicht dagegen kämpft.“ Denn Deutschland sei ein wesentlicher Bestandteil europäischer Politik. „Sich rauszuhalten geht gar nicht – vor allem nicht mit unserer Geschichte“, betonte Mörtter. „Massengräber dürfen nicht mehr sein. Für die war Deutschland zweimal verantwortlich – und jetzt muss es dafür verantwortlich sein, dass es kein Massengrab Mittelmeer mehr gibt.“

Die Gemeinsame Erklärung von Stadtdekanat und Evangelischem Kirchenverband finden Sie hier.

Den Kölner Aufruf der Aktion Seebrücke finden Sie hier. Weitere Informationen über die Kölner Aktivisten der Seenotrettung gibt eshier.

Pfarrer Mörtter ruft dazu auf, sich zu Weihnachten ein Flüchtlingsschiff aus Papier in den Christbaum zu hängen, als Erinnerung, Mahnung und Zeichen der Solidarität. Die Vorlage zum Ausdrucken und Basteln gibt es unter www.sosprojekt.de

  

Hinweisen möchten wir auch noch einmal auf den Fachtag der Aktion Neue Nachbarn am Freitag, 17. Januar, zu dem Sie sich noch anmelden können. Informationen dazu finden Sie hier.

 

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