Stadtdechant Kleine zur Jahreswende: Missbrauchs- und Vertrauenskrise, Pandemie und Spaltung – Nichts ist sicher, doch Gottes Zusage an die Menschen gilt

2. Januar 2022; ksd

Köln. Im vergangenen Jahr hat nicht nur Corona das Leben vieler Menschen und der ganzen Welt (weiterhin) auf den Kopf gestellt. In der katholischen Kirche – und darüber hinaus – haben die Missbrauchs- und Vertrauenskrise Haupt- und Ehrenamtliche wie Gläubige vor innerliche und äußerliche Zerreißproben gestellt. Dennoch darf mensch hoffen. Das macht – trotz realitätsbewusster Bilanz – Kölns Stadtdechant Msgr. Robert Kleine in seiner Predigt zur Jahreswende deutlich:

„Das Virus hat uns die Planbarkeit und Kontrolle für uns und unsere Lebensentwürfe an vielen Stellen entzogen. Wir sind mehr denn je auf uns zurückgeworfen“, so Stadtdechant Kleine mit Blick auf das zweite Corona-Jahr. „An die Stelle von Selbstbehauptung und Selbstermächtigung treten Unsicherheit und Verletzlichkeit.“ Diese Unsicherheit, Angst, wirtschaftliche und gesundheitliche Sorgen, Einsamkeit und Isolation prägten auch im vergangenen Jahr weltweit den Alltag der Menschen.

Statt der erhofften Normalität durch die Impfung sehe die Realität zum Jahreswechsel anders aus: „Booster-Impfung, Impfverweigerer, 3G, Omikron-Variante, 2Gplus, erneute Absage vom traditionellen Sternsinger-Besuch zu Hause, von Veranstaltungen und dem Rosenmontagszug“, nennt Kleine Beispiele und fährt fort: „Kontaktbeschränkungen, weiterhin Infizierte, Erkrankte und Verstorbene, wieder der Blick auf Intensivbetten – und die Befürchtung, dass es zumindest in den nächsten Wochen nicht besser wird. Und für danach hoffen wir natürlich alle, dass sich unser Leben wieder normalisiert – was immer das heißen mag.“

 

Gesellschaft in der Krise: Spaltung, Hass und Hetze

 

Polarisierungen, spalterische Tendenzen und Zerwürfnisse – nicht nur in der Parteienlandschaft – seien 2021 noch offener zutage getreten, so der Stadtdechant. „Querdenker und Reichsbürger, Beschimpfung unserer freiheitlichen Demokratie als ,Diktatur’, gewaltbereite Demonstranten am rechten und linken Rand, offener Antisemitismus und Rassismus, Hass und asoziale Hetze in den sogenannten Sozialen Medien“, konstatiert Kleine gesellschaftlich kritische Entwicklungen. 

Hinzu kommen weitere Katastrophen und Krisen wie die Flutkatastrophe im vergangenen Juli an Ahr, Rhein und Sieg mit vielen Toten und unzähligen zerstörten Existenzen oder die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, welche die Lage vor allem für Frauen und Mädchen sowie für Regimekritiker und Ortskräfte, die mit den Alliierten zusammengearbeitet hatten, verschlechterte und verschärfte. 

 

Kirche in der Krise: Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust

 

Die katholische Kirche stand im vergangenen Jahr weiterhin in der Kritik so der Kölner Stadtdechant, international, national und vor allem lokal, im Erzbistum Köln. Auch wenn manches an der Kritik überzogen sei und sie Haupt- wie Ehrenamtliche bedrücke und zermürbe – die Kritik ist generell berechtigt, macht Kleine deutlich.

Sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt in der Kirche, die vor rund zehn Jahren öffentlich bekannt wurden, seien erwiesen. Priester, Ordensleute und andere kirchliche Mitarbeiter wurden zu Tätern und Täterinnen an Kindern und Jugendlichen. „Das sind furchtbare Verbrechen, für die die Täter mit aller Härte des weltlichen und kirchlichen Rechts zur Verantwortung gezogen werden mussten beziehungsweise müssen“, fordert Kleine einmal mehr. „Dabei muss die Aufmerksamkeit der Kirche in erster Linie den von sexualisierter Gewalt Betroffenen gelten – wobei alles getan werden muss, um zu verhindern, dass sich diese instrumentalisiert fühlen.“

Dem Willen zur Aufklärung folgte im Erzbistum Köln eine bis heute anhaltende Missbrauchskrise mit zwei Gutachten, Kommunikations- und anderen Fehlern, einer Auszeit für den Kölner Erzbischof, Kardinal Rainer Maria Woelki, sowie zuletzt Veröffentlichungen über Kosten in Millionenhöhe, rekapituliert der Stadt- und Domdechant. „Alles zusammen führte zu einer Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise der Kirche, die sich in extremen Austrittszahlen – gerade auch in Köln – ausdrückt.“

 

Die Zukunft der Kirche braucht Engagement und Offenheit

 

„Wild Cards“ nennen US-Forscher „jene überraschenden Querschläger, die unsere Welt abrupt auf den Kopf stellen und Entwicklungen in eine gänzlich unerwartete Richtung lenken“, erläutert Kleine mit Blick auf die Krisen. Sie könnten aber auch positive Wirkungen haben. „Das kann auch für unsere Kirche gelten“, so der Stadtdechant: „Indem wir sensibler werden für die Menschen mit ihren Freuden und Sorgen. Indem wir versuchen, wieder glaubwürdig den Weg der Nachfolge Jesu zu gehen, der ohne Machtgehabe und Amtsgewalt zu den Menschen gegangen ist. Indem wir in einen neuen Dialog mit den Menschen eintreten, indem wir zunächst einmal zuhören und versuchen, die Position des anderen zu verstehen.“

„Eine hilfreiche, solidarische Kirche an ihrer Seite zu erleben – wäre das nicht eine tolle Erfahrung für die Menschen?“ Die künftige Gestalt von Kirche hängt davon ab, ob sie ihre Tür einladend für die Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen und Lebensformen öffnen wird, betont Kleine. „Oder ob sie weiter Türen zulässt oder zustößt, um sich in einer Art Wagenburgmentalität von der Realität der Menschen und damit auch von den Menschen selbst abzuschotten.“ 

 

Kirche ist mehr als eine Summe von Fehlleistungen

 

Es gebe viele Menschen, die schon heute konkret Türen in der Kirche öffnen: „Im Engagement in der Caritas, in der Liturgie und in der Sakramenten-Vorbereitung, in der Hilfe für Geflüchtete und Obdachlose, in der Bildungsarbeit für Familien und Erwachsene, in der Sorge um Kranke und Einsame, in den Gremien unserer Gemeinden und Pfarreien, als Hauptamtliche und Ehrenamtliche.“ Ihnen alle gelten sein besonderer und aufrichtiger Dank als Stadtdechant.

Zu oft werde das Gute in der Kirche durch die Missstände und Skandale überdeckt oder nicht wahrgenommen, bedauert Kleine. Doch „gerade in diesem vielfältigen Engagement für die Menschen und für unser Gesellschaft zeigt sich ja, dass Kirche noch einmal mehr ist und eben nicht bloß eine Summe von Fehlleistungen, an denen man sich extern abarbeiten kann und an denen man intern leidet bis zur Verzweiflung“. Und weiter: „In all den Menschen, die Gutes tun, in jedem Gläubigen, in all dieser Arbeit für Gott und den Nächsten verwirklicht sich Kirche.“

 

Schritt für Schritt lernen, Gott zu vertrauen

 

Zur Jahreswende erneuert Gott seine Zusage an die Menschen: „Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden“, zitiert Kleine aus dem Alten Testament, dem ersten Teil der Bibel. „Ich denke, dass dies sicherlich ein sehr hoher Anspruch an unseren Glauben und an unser Gottvertrauen ist, dass wir uns nicht ängstigen und fürchten sollen, aber vielleicht können wir im neuen Jahr Schritt für Schritt lernen, Gott zu vertrauen.“

Sein Appell: „Lebt Gott in uns, dann können wir auch dunkle Stunden, schlechte Tage und so manche ,Wild Card’ in den großen und kleinen Katastrophen und Dingen des Alltags und des Lebens überstehen“, sagt der Seelsorger. „Denn Gott ist mit uns und Gott ist in uns. Wir können deshalb gewiss sein: Gott schenkt uns Kraft und Hilfe und er will unser Heil auch im vor uns liegenden neuen Jahr!“

Und er erinnert daran, dass es darum geht in diesen Weihnachtstagen: „Wir feiern das Leben. Wir feiern, dass uns das Leben geschenkt worden ist, in Jesus Christus sogar neu geschenkt wurde; ein Leben, das auch angesichts aller Bedrohung durch die Pandemie oder anderer Schatten voller Hoffnung sein darf“, so Stadtdechant Robert Kleine. „Wir feiern das Geschenk des Lebens, zu dem Gott gerade mit seiner Menschwerdung unwiderruflich Ja sagt, beginnend bei der Krippe und über das Kreuz als Brücke in den Himmel hinein.“

 

Die gesamte Predigt können Sie auf der Facebook-Seite des Stadtdechanten nachlesen oder hier herunterladen.

 

Via Radio NRW hat Stadtdechant Robert Kleine allen Menschen ein gesegnetes, frohes neues Jahr gewünscht – und erklärt, warum die Kirche den Weltfriedenstag feiert.

 

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