Studientag des Stadtdekanats: „Im kirchlichen Dienst – geht’s noch?“

28. Juni 2022; ksd

Köln. Den Kirchen laufen die Mitglieder zu Hunderttausenden davon, Tendenz weiter steigend. Nach Missbrauchs- und Finanzskandalen hat die katholische Kirche das Vertrauen vieler Menschen verloren, nicht nur im Erzbistum Köln. Die anhaltende Krise bringt verstärkt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Konflikt mit der Motivation und Berufung, die sie in ihren Beruf geführt hat. Viele stehen unter starkem Druck, ringen um Perspektiven und Sinn. Das Stadtdekanat Köln lud deshalb Mitarbeitende zu einem Studientag ein, um dem Raum zu geben. In der Karl Rahner Akademie ging es einen Tag lang um die Auseinandersetzung mit persönlichen und allgemeinen Aspekten dieser Situation sowie um die Frage „Im kirchlichen Dienst – geht’s noch?“ .

Den Schwerpunkt des Tages bildete ein Gespräch mit der Priorin der Benediktinerinnen von Köln-Raderthal, Schwester Dr. Emmanuela Kohlhaas, und dem Jesuiten Dr. Stephan Kessler, Oberer der Kölner Kommunität des Ordens, unter dem Thema „Katholische Vielfalt und Weite: Ordensgemeinschaften als Vorbild für eine zeitgemäße Kirche“. Kohlhaas, die auch als Organisationsberaterin und Bestseller-Autorin („Die neue Kunst des Leitens“) bekannt ist, machte deutlich, dass Ansätze für eine Lösung in einem Strukturwandel lägen: Leitungspositionen durch Wahl und auf Zeit besetzen, echte Beteiligung bei Entscheidungen, ein neues Leitungsverständnis, das auf Integration und Moderation basiert und nicht mit Verordnungen „von oben“ durchregiert. Zu all dem brauche es Mut und Disziplin. Erforderlich sei es auch, als Leitende die Angst vor Kontrollverlust sowie bereits vor Entscheidungsprozessen das Ergebnis loszulassen, also offen zu sein für andere Meinungen und einen anderen als den selbst erdachten oder erwünschten Ausgang von Prozessen.

 

Demokratie in der Kirche

 

„Das haben wir seit 1500 Jahren und das hat dem Katholischen keinen Abbruch getan“, so Kohlhaas mit Bezug auf ihren Orden. Interessanterweise fordere das Kirchenrecht dies geradezu vom Orden, auch unter der Prämisse, dass Amtszeiten nicht zu lange dauern sollten. „Es gibt enorm viel Erfahrung in den Orden, wie so etwas gutgehen kann, sodass ich immer lachen muss, wenn kommt ,Das kann nur der Papst entscheiden, das muss hierarchisch entschieden werden. Und einen Bischof auf Zeit können wir uns überhaupt nicht vorstellen‘. Also wir halten das für das Normalmodell.“ Die leitende Schwester des Weltverbandes der Benediktinerinnen nenne sich selbst seit langem nur noch Moderatorin und dieser Wandel im Leitungsverständnis sei der größte „Gamechanger“ – Erfolgsfaktor für den Wandel – gewesen, erläuterte die Benediktinerin, die aktuell mit ihrer Gemeinschaft viel Zulauf verzeichnet und in Düsseldorf ein neues Kloster gründet.

Moderne Leitung und basisdemokratische Prinzipien gebe es also bereits in der Kirche, „ob ich das nun Demokratie nenne oder Synodalität – das Prinzip ist da und ich halte es für genau richtig, dieses Prinzip zu stärken und zu schauen, wie wir miteinander auf dem Weg sein können“, sagte Kohlhaas. Das benediktinische Strukturmodell – weltweit vernetzt, autonom vor Ort – könne auch das oft als Bremse vorgebrachte Weltkirchenargument, demzufolge entscheidende Veränderungen in der Kirche nur in weltweiter Einigkeit erfolgen könnten, „ein bisschen entschärfen“, so die Managementexpertin. „Wir leiten ein System, das sehr beweglich ist. Warum nicht so in der Großkirche? Beim Papst, auf der Ebene des Bistums, auf Ebene der lokalen Gruppen?“

 

Padre Bergoglio und das jesuitische Dilemma

 

Pater Kessler versuchte, mit Blick auf die Entwicklungen in der Kirche und auf die Situation im Erzbistum Köln etwas Licht in die Entscheidungsprozesse seines Ordensbruders „Padre Bergoglio“ – Papst Franziskus – zu bringen: „Der Papst redet in Bildworten, fährt auf der Autobahn des kirchlichen und zeitlichen Lebens links blinkend auf der Überholspur, wenn Sie ihm so zuhören. Aber immer, wenn es zu einer komplexen Situation kommt, biegt er scharf rechts ab. Und alle sind enttäuscht.“ Etwa bei der Amazonas-Synode (2019), bei der viele die Aufhebung der Zölibatspflicht erwartet hätten.

Zunächst habe Franziskus „sehr offen, sehr weit“ signalisiert: „Ja, das ist überhaupt keine Frage, das gehört nicht substanziell zum Priestertum. Das kann geändert werden.“ Im nachsynodalen Schreiben, mit dem der Papst die Ergebnisse der Beratungstätigkeit zusammenfasst und zusätzlich zum Schlussdokument der Synode amtlich veröffentlicht, habe es dann geheißen, dass es wegen fehlender Evidenz und nicht ausreichender Gründe noch keine Änderung beim Zölibat gebe, fasste Kessler zusammen. Damit stellte sich der Papst der von den Synodalen vorgeschlagenen Lockerung des Zölibat zumindest unter bestimmten Umständen entgegen. „Das heißt nicht, dass er es nie entscheiden wird“, so Kessler, „ich phantasiere mal: Sollte der synodale Prozess der Kirche in Deutschland, sollten die synodalen Prozesse, die auf weltkirchlicher Ebene sind, da nochmal ein Votum erbringen, das klar ist, ist der Papst in der Pflicht.“

Jesuiten versuchten sich durch geistliche Übungen, die auf ihren Gründer Ignatius von Loyola zurückgehen, auf Entscheidungen vorzubereiten, damit sie möglichst frei entscheiden können, so Kessler weiter, „frei vor den eigenen Vorgaben, vor den kirchlichen Erwartungen, vor den kollegialen, auch den in der Kirche oft angegebenen Dingen“. Bei Franziskus komme zum „Dilemma jesuitischen Entscheidens“ eine „notorische päpstliche Unberechenbarkeit“ hinzu, unter der auch die Menschen im Erzbistum Köln litten, sagte Kessler mit Blick auf das „Angebot des Amtsverzichts“, das Kardinal Rainer Maria Woelki nach eigener Aussage „am Ende seiner Amtsenthebung auf Zeit“ gemacht habe.

 

Kirche auf dem Weg in die Irrelevanz?

 

„Der Papst kann damit machen, was er will. Er tut aber nichts. Monat für Monat geht dahin“, beklagte der Jesuit. „Ja warum? Das gleiche wie beim Zölibat: die Gründe (für eine Entscheidung – Anm. d. Red.) sind noch nicht klar. Vielleicht müsste die Kirche von Köln sich auch mal klar bekennen, klarer als viele oder zumindest in der gleichen Klarheit wie das Votum der Stadt- und Kreisdechanten in diesem Erzbistum.“ Er rufe nicht zur öffentlichen Revolution auf, aber zur Klarheit in der Sache, betonte Kessler. Ohne Wandel skizziert Kessler die Konsequenzen für das Erzbistum Köln so: „Wenn wir bei dieser Art inneren Spagats bleiben, desavouiert sich jegliche Form von Leitung zu ihrer absoluten Irrelevanz.“

Auch als Institution drohe sich die Kirche insgesamt zu dieser absoluten Irrelevanz herunterzuwirtschaften, wenn sie nicht darauf reagiere, dass sich die Voraussetzungen und Umstände ändern – und die Menschen. Dabei erteilte Kessler der Säkularisierungsthese eine Absage: „Das stimmt ja nicht, die Leute gehen zwar nicht mehr in die Kirche, sind aber weiterhin religiös. Und dem dienen wir einfach nicht mehr.“ Es seien nicht die Menschen, die sich von der Kirche entfernten, „sondern die Hierarchie ist dabei, die Kirche zu verlassen“, so der Jesuit.

 

Kirche als Bewegung von Sympathisanten?

 

Ähnliches schilderten Teilnehmer in ihren Redebeiträgen. Vielen Mitarbeitenden ginge es um Professionalität und Persönlichkeit, so ein Caritas-Mitarbeiter. Sie wollten fachlich am christlichen Konzept des jeweiligen Arbeitgebers mitarbeiten, seien aber selbst nicht unbedingt religiös gebunden. Diese Mitarbeitenden wollten „ganz andere Leitungsszenarien erleben“, sagte er. „ Wenn die in der neuen Grundordnung des kirchlichen Dienstes lesen werden, dass, wer aus der katholischen Kirche ausgetreten ist, ungeeignet ist für diesen Dienst, verstehen die die Fragestellung gar nicht mehr, weil die nicht mehr nach Zugehörigkeitskriterium gehen“, betonte er. Die deutschen Bischöfe beraten aktuell über einen Neu-Entwurf der Grundordnung. Die Menschen wollten in ihrer Arbeit vielmehr „eine hohe Professionalität in eine wichtige Sache einbringen“, so der Teilnehmer weiter. Sein Frage-Impuls: „Wie kriegen wir das hin? Brauchen wir nicht andere Bilder von Kirche – als Bewegung von Sympathisanten, des Mitgehens auch auf Zeit?“

„Ich bin schon länger der Meinung, die Kirche sollte in diesem Bereich auf alle Privilegien verzichten“, kommentierte Schwester Emmanuela mit Blick auf das kirchliche Arbeitsrecht. „Dann wären schonmal ganz viele Problemfelder ausgeschaltet. Dieses Festhalten an irgendwelchen Privilegien der Vergangenheit halte ich für völlig kontraproduktiv.“

Man müsse lernen, für eine andere Art von Kirche einzutreten, so Kessler, „selbst wenn es einem Angst macht“. Die Privilegien der Kirche, etwa im eigenen Arbeitsrecht, würden „über kurz oder lang alle in Frage stehen“, erläuterte der Jesuit. „Das wird die Kirche verändern, aber nicht die Botschaft, für die die Kirche steht. Das Evangelium mahnt uns auch nicht, den institutionellen Rahmen aufrechtzuerhalten. ,Geht hin und verkündet die gute Nachricht‘ – das ist der Auftrag und nicht, dass der Papst Papst bleibt und die Bischöfe rote Kleider tragen.“

 

Kirchliche Mitarbeitende erleben Unfreiheit und Druck

 

Professionalität, Freiheit und Kooperationsfähigkeit seien die entscheidenden Faktoren, so Kessler weiter: „Lernen Sie diese Dinge“, sagte er besonders an die Führungskräfte im Raum adressiert. Dass Mitarbeitende im kirchlichen Dienst oft anderes erleben, schilderte eine Teilnehmerin. „Wir sind müde, über Strukturen zu sprechen – aber wir müssen über diese Strukturen sprechen!“, sagte sie. „Was wir erleben, was ich erlebe, ist, dass es momentan eher sogar noch strenger wird, also dass von oben noch mehr vorgegeben wird, wie wir eigentlich unsere Arbeit zu tun haben. Was überhaupt nicht nötig ist!“ Das widerspreche auch einem Prinzip der katholischen Soziallehre, der Subsidiarität und „dass die Ebene, die etwas machen kann, es auch machen soll“. Ihr Frage-Impuls an die Ordensleute: „Wo setzen wir da an, wo können wir von Ihnen lernen?“ Gleichzeitig ermutigte sie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer: „Wir haben auch eine Stimme, wir können etwas verändern!“

Ein weiterer Caritas-Mitarbeiter kritisierte, dass die Kirche sich zwar die Soziallehre an die Fahnen hefte, aber als Arbeitgeberin keine Gewerkschaften zulasse. „Das ist für mich ein fragwürdiges Modell“, sagte er. Stadtdechant Msgr. Robert Kleine, der auch Vorsitzender des Caritasrates beim Caritasverband für die Stadt Köln ist, gab er deshalb die „Anregung“ mit, „ Überlegungen zuzulassen, dass die Mitarbeitervertretung in den Caritasräten ihren Platz hat, wie zum Beispiel eben ganz selbstverständlich die Gewerkschaften ihren Sitz haben in den Aufsichtsräten der großen Unternehmen“.

Die Caritas sei ein Teil der Kirche, der oft von anderen Dingen bestimmt werde. „Es herrscht eine andere Funktionalität, andere Dinge halten Einzug, also Wirtschaftlichkeit“. Das sei zwar auch Ausdruck von Professionalität, übe aber oft „einen enormen Druck“ aus. „Entspricht das eigentlich dem, was Kirche will?“, fragte er weiter. „Dass Menschen funktionieren müssen, dass Entscheidungen sehr hierarchisch getroffen werden, dass es oft kein richtiges Gegengewicht gibt, dass man das Gefühl hat, die Wirtschaftlichkeit entscheidet alles.“ Auch die Caritas könne von einem Leitungsverständnis profitieren, wie es die beiden Ordensvertreter aufgezeigt hätten.

Schwester Emmanuela hat eine klare Position bei solchen Themen: Das „Diktat des Wirtschaftlichen“ sei gerade im sozialen Bereich „ein Riesenproblem“. Sie fordert zudem einen Verzicht auf ein eigenes kirchliches Arbeitsrecht. Die Kirche müsse sich dringendst am Evangelium orientieren – weg von Befehlen und einem überkommenen Gehorsamsverständnis. Ähnlich sieht es Pater Kessler: Es sei das „systemische Misstrauen“, das krank mache, das fehlende Vertrauen in die Professionalität und auch in die Identität, in die Persönlichkeit von Mitarbeitenden. Was die Menschen bräuchten, sei eine Geste des Vertrauens.

 

Krise hat Ursprünge im 19. Jahrhundert

 

Dass vieles an der aktuellen Kirchenkrise seinen Ursprung im 19. Jahrhundert hat, machte der Mainzer Dogmatiker und Fundamentaltheologe Professor Dr. Oliver Wintzek in seinem Vortrag deutlich. Unter Papst Gregor XVI. (Amtszeit: 1831-1846) habe die „Fossilisierung der Kirche“ begonnen. Errungenschaften von Aufklärung, Wissenschaften und Französischer Revolution habe die Kirche als „ verboten“ und „irrgläubig“ etikettiert: „Demokratie, Meinungsfreiheit, Gleichheit der Menschen, Würde des Menschen“, zählte Wintzek auf.

Die Kirche habe sich als Bollwerk gegen die Moderne aufgestellt. Argumentiert wurde damals schöpfungstheologisch-naturrechtlich mit „Gott hat es ja so gemacht“: „Und wenn du dich dagegen auflehnst, stellst du dich außerhalb der göttlichen Ordnung“, erläuterte Wintzek. Die Kirche habe sich als Verwalterin der einzigen, übernatürlichen Wahrheit und des Wissens über Gott, „das den normalen Menschen nicht zukommt“, präsentiert. „Dieses naturrechtliche Denken feiert bis in die Gegenwart fröhliche Urstände“, etwa in Bezug auf die ganze Sexualmoral, sagte der Theologe.

„Fast die ganzen Macht-Unwuchten, die wir bis heute erleben“, haben ihren Ursprung in den Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, so Wintzek. Die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (1870) machte die „lehrende und richtende Kirche“ zur „ Glaubensregel für alle Gläubigen“. Die Auffassung von der „rechten“ Vernunft und der „rechten“ Freiheit zieht sich laut Wintzek durch bis in heutige kirchliche Dokumente.

 

Ewigkeitsstarre statt Korrektur der Lehre

 

Auch die Überhöhung des geistlichen Amtes habe ihre Wurzel im 19. Jahrhundert, macht der Theologe deutlich. „Deswegen musste man die Integrität des Amtes schützen auf Teufel komm raus“, sagte er. Wintzek attestiert der (damaligen) Kirche eine „panische Angst davor, dass das sogenannte Wissen über Gott den Wandlungen der Zeit unterliegt“: „Das muss Ewigkeitscharakter haben. Also kein Lernprozess, keine Modifizierung, keine Korrektur.“

Entsprechend kritisch sieht er die Aussagen mancher Bischöfe von heute, die Lehre müsse weiterentwickelt werden. „Das ist ja meistens auch eine kleine Lüge, weil vielfach eine Weiterentwicklung nicht taugt“, so Wintzek. Es brauche eine Korrektur. Doch das Lehramt der Kirche korrigiere nicht, halte vielmehr an der vermeintlichen Unwandelbarkeit des Glaubens fest und stecke in einer Ewigkeitsstarre, denn sonst „könnte ja am Ende die Vermutung stehen, es ist vielleicht gar nicht so eindeutig“ mit der Lehre. Wintzek ironisch: „Überraschung – es ist nicht so eindeutig.“

Auch das Zweite Vatikanische Konzil, „das manchmal so über den grünen Klee gelobt wird“, sei ein Sammelsurium aus den Entscheidungen und Weichenstellungen des 19. Jahrhunderts, die Wintzek auch „ Willkür-Konzept“ nennt. Das Konzil sei „auch schon ein wenig in die Jahre gekommen“. Das bedeutendste Dokument, die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ – Freude und Hoffnung – „über die Kirche in der Welt von heute“ wurde 1965 veröffentlicht.

Er ertrage es nicht mehr, wenn immer wieder gesagt werde, das Entscheidungen nur auf Weltkirchenebene getroffen werden könnten, so der Theologe: „Wenn die Bischöfe ,Weltkirche‘ sagen, heißt das: ,Ich will das nicht‘. Wir haben ein Instrument, um auf Weltkirchenebene zu entscheiden: ein Konzil. Ja, dann machen wir eins!“ Schließlich hatte schon das Konzil von Konstanz 1417 festgelegt, dass es möglichst oft Konzilien geben sollte, alle fünf, acht oder zehn Jahre. Damals wurde auch festgelegt, dass das Konzil über dem Papst stehe – und in der Folge wieder aufgehoben. So wurden „enorme Chancen“ in der Kirche vertan, erklärt Wintzek.

 

„Es braucht eine Neuerfindung des Katholizismus“

 

In den geschichtlichen Erosionsprozessen von Glaubensüberzeugungen ziehe man sich seitens der Kirche darauf zurück, dass sich das Ewige „in unanfechtbarer Ordnung“ verberge. Aussagen wie „Die Kirche hat keine Autorität dazu“ – Positionen und Entscheidungen zu verändern – seien eine seiner Lieblingsdenkfiguren, „weil sie so absurd ist“, so Wintzek. Das zeige sich etwa in der Entscheidung Johannes Pauls II., Frauen dauerhaft vom sakramentalen Amt auszuschließen, oder unlängst im Verbot der Segnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften. „Die Kirche hat keine Autorität dazu. Woher weiß sie das? Das weiß sie, weil sie sich selbst ermächtigt hat, Gott in einer Art und Weise zu verwalten, dass etwas Neues, etwas Anderes, eine Umjustierung gar nicht möglich ist“, erklärte der Dogmatiker. „Aber genau diese Selbst-Formation der Kirche ist eine moderne Umjustierung gewesen.“

Deswegen könne man – wenn man das einmal durchschaut habe – „gebührend kritisieren, nämlich geschichtlich und theologisch belehrt kritisieren, dass es anders sein könnte und im Zweifel anders sein müsste, weil das System nicht mehr funktioniert“. Was nicht rezipiert wird, existiert nicht mehr, so Wintzek – oder im Umkehrschluss: was in der Kirchenpraxis keine Rolle mehr spielt, verschwindet.

Wintzeks Appell ist daher eindeutig: „Wie weit soll denn die Schere noch auseinandergehen zwischen dem, was pluriform geglaubt und mit Verantwortung gelebt wird, und dem, was die Kirche als zu Glauben und zu Leben vorschreibt? Es ist für eine Glaubensgemeinschaft desaströs, wenn diese Schere immer weiter und weiter auseinandergeht. Und da helfen auch keine frommen Floskeln und keine Ausnahmeregelungen, sondern es braucht eine grundsätzliche Um- und Neujustierung. Es braucht eine modernitätskompatible, freiheitssensible, menschenachtende Neuerfindung des Katholizismus in unserer Zeit!“

 

Kraftquellen im Alltag finden

 

Das „Selbst-Bewusstsein“ dafür, selbst Kirche zu sein, wollte der Dortmunder Lehrstuhlinhaber für Exegese und Theologie des Alten Testaments, Professor Dr. Egbert Ballhorn, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in einem interaktiven Programmpunkt vermitteln. Er lud – inklusive eines Gangs in die Kunststation und Jesuitenkirche St. Peter – dazu ein, sich Kirchenräume und die Texte der Bibel neu zu erschließen.

„Wir haben uns ja so gewöhnt an diese Nachkriegs-, Konzils- und Liturgiegeschichte: Kirche ist ein Eingangsraum, vorne ein Altar und da versammelt sich die Gemeinde. Und so sind unsere Räume ja gar nicht. Der Kölner Dom ist ein Raum aus ganz vielen Räumen, die multifunktionell nutzbar sind und gedacht waren. Im Mittelalter haben die Pilger da übernachtet. Man hat das Allerheiligste dann nur aufgemacht, damit die Leute dahin gehen konnten“, erinnerte Ballhorn. „Gehen Sie mal rum und gucken Sie, was da ist. Und ob da nicht manches für uns heute spannender ist als wir uns das gedacht haben.“

Seine Impuls-Fragen an die Teilnehmenden: „Wo kommt im Alltagsgeschäft die Kraft her? Wo spüre ich Energie und habe so richtig Muckis in dem, was ich im Alltag tue?“ Und weiter: „Haben Sie für Ihre berufliche Tätigkeit, für sich selber, so etwas wie ein geheimes Motto?“ Ihm falle kein eigenes ein, aber er schätze das der Schriftstellerin Felicitas Hoppe: „Ich lebe nach dem Manna-Prinzip: da wird schon was für mich vom Himmel fallen.“

 

„Lassen wir uns nicht die Sprache rauben“

 

Ballhorn ermutigte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dazu, eine eigene Sprache zu finden für das, was ihnen wichtig ist und sich das „zu eigen zu machen, in eigene Worte zu bringen“. Das sei der Anfang von Glaubenstätigkeit.

Die Bibel sei eine Art Fremdsprache, das gelte auch für ihn als Exeget. „Wenn Sie mit den Texten fremdeln, dann ist das nicht schlimm“, so Ballhorn. „Die Bibel ist ein Stück Fremdsprache, die mir in einer anderen Sprache etwas sagt, was ich mir selber so vielleicht nicht sagen könnte. Das ist der Grund, warum die Auseinandersetzung mit der Bibel etwas Kreatives ist.“

Sein Appell und seine Ermutigung an die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: „Dass wir uns in den derzeitigen Zeiten nicht die Sprache rauben lassen, dass wir nicht andere sprechen lassen, sondern selber Worte finden für unseren Glauben. Und vielleicht – da würde ich sagen, das ist der karitative Teil – auch für die Sprachlosen die Stimme erheben. Und für die stumm Gewordenen. Aber dazu gehören auch eigene Sprachversuche, Plapperversuche, also auch etwas Spielerisches. Und Räume zum Aus-Sprechen und zum Sprechen eröffnen. Das ist für mich eine der Definitionen von Glauben. Glaube ist nichts für Wahrheiten oder sich ganz doll anstrengen oder ein ,Wir müssen jetzt die Welt retten‘ – sondern dass wir versuchen, uns von dieser Sprache Gottes inspirieren zu lassen und sehen, dass sie uns und die Welt verwandelt. Das wird dann passieren.“

 

„Kirche hat ihre Zukunft noch vor sich“

 

Die Bilanz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war positiv: „Mir wird immer wieder bewusst, wie viel wir eigentlich in der Kirche haben, wie viele Kompetenzen, wie viele Gedanken, wie viel Tradition“, sagte eine Teilnehmerin. „Und ich möchte nicht vergessen, dass auch ich dafür einen Beitrag leisten kann und dass ich nicht immer von anderen erwarten kann, dass sie dieses Problem für mich lösen.“ Ein anderer Teilnehmer sagte: „Es ist so viel Vielfalt und Reichtum in unserer Kirche und unserem Glauben, dass es schade ist, das anderen zu überlassen.“

„Mir ist hängen geblieben: nicht die Menschen wenden sich von der Kirche ab, sondern die Kirchenlehre wendet sich von den Menschen ab“, sagte ein weiterer Teilnehmer. Ein anderer betonte dagegen: „Ich glaube, dass spürbar wird, dass diese Kirche ihre Zukunft noch vor sich hat. Das kann man im Bistum Köln ja manchmal durchaus aus den Augen verlieren. Aber bei mir bleibt der Satz, dass dieser Raum mir oder uns die tiefe innere Emanzipation oder Freiraum gibt. Da bewegt sich gerade wenig und nichts und darum haben wir auch diesen Stress. Aber Kirche hat ihre Zukunft noch vor sich, das spüre ich stärker als heute morgen.“

 

Autorin: Hildegard Mathies

 

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